Plötzlich geschrumpft
+++ English Version below +++
Beim Auswandern geschehen sonderbare Dinge.
Unlängst, etwa, bin ich auf einmal geschrumpft.
Oder vielmehr, ich habe mit einem Mal erkannt, dass ich geschrumpft bin. Der Prozess des Kleinwerdens ist nicht schlagartig passiert, er hat sich langsam vollzogen, schleichend; jeden Tag nur so wenig Veränderung, dass ich nichts wahrnehmen konnte
Es war bloß alles anstrengender. Einfache Wege: Die Umgebung erkunden, die Bewerbung abschicken, ein passendes Kaffeehaus finden, der erste Tag als Lehrerin, einen Text verfassen. Jeder Schritt kostete mich zwei und ich war außer Atem bevor ich die Hälfte des Weges geschafft hatte.
Müde Verärgerung
Weil ich die Müdigkeit nicht erklären konnte, kam die Verärgerung. Anstatt mich auszuruhen, habe ich mich aufgerappelt. Bin ein bisschen fester in die Pedale getreten, habe die nächste Sporteinheit absolviert, noch eine Bewerbung abgeschickt, ein Projekt begonnen.
Denn anfangs war es doch leicht. Ich war dem Abenteuer in den neuen englischen Gassen entgegen getänzelt. In dem schwerelosen Zustand, der aus der Ferne als so erstrebenswert aussieht: Ohne Schnüre, die einen am Boden halten.
Doch das Schweben geht nur gut, wenn man sich nicht über das Fallen sorgt. Dann sieht man plötzlich die Schluchten der Ungewissheit, die immer da sind, aber im Dunst des Horizonts untergehen, wenn man sich auf die Fußstapfen der Routine konzentriert. Die feste Struktur der Gewohnheit ist immer auch Stütze. Wir halten an der Routine fest und die Routine hält die Welt in Ordnung.
Ohne Alltagskorsett
Deshalb, im Umkehrschluss: Wenn man aus dem Korsett des Alltags schlüpft, die Komfortzone verlässt, bricht die Relation, wächst die Welt um einen herum auf einmal, streckt sich, reckt sich und bläst sich auf wie ein Luftschloss auf.
Da endlich erreicht einen die Erkenntnis: Du bist gar nicht geschrumpft. Die Welt um dich herum gewachsen.
Der erste – und auch der zwanzigste – Tag im neuen Job kostet mehr Kraft als der siebenhundertachtzigste; die Regeln eines Landes zu lernen mehr Zeit als die bekannten Regeln zu befolgen, die neue Laufstrecke zu finden, mehr Energie als die bekannte Runde zu absolvieren; die unbekannte Stadt nach den richtigen Geschäften zu durchforsten mehr Geduld als die gewohnten Geschäfte anzusteuern.
Spitzen erklimmen
Und du erkennt auch: An jeder Hügelspitze, die du erklimmst, gibt es ein bisschen mehr Halt. Ein bisschen mehr Stütze, die nicht nachgibt, die sich anschmiegt, eine zweite Haut, ein neues Korsett, das nun luftig ist, weich, fast zart.
Und vielleicht, ist dann der nächste Gedanke, ist der Stuhl auf dem du dich gerade ausruhst, den du alleine ausfüllen wolltest, gar nicht für einen Riesen gemacht, sondern für eine Gruppe Menschen.
The time I suddenly shrank
Strange things happen when you emigrate.
Recently, for example, I suddenly shrank.
Or rather, I suddenly realised that I had shrunk. The process of becoming smaller didn’t happen suddenly but insidiously: the change was so very small every day that I could not notice it.
It was just more exhausting. Simple ways: exploring the surroundings, sending off the application, finding a suitable coffee house, the first day as a teacher, writing a text. Each step cost me two and I was out of breath before I had made it halfway.
Tired annoyance
As I couldn’t explain the tiredness, the annoyance came. Instead of resting, I picked myself up. I pedalled a little harder, put in the next exercise session, sent off another application, started another project.
Because at first, it had been so easy. I had hopped towards adventure through the new English lanes. In this weightless state mid-leap, which from a distance looks like the only one worth striving for. No strings that hold you down.
But floating only goes, if you don’t worry about falling. Because then you suddenly see the canyons of uncertainty that are always there but get lost in the haze of the horizon when you focus on the footsteps of routine. The firm structure of habit is always also comfort.
Order and routine
We hold on to the routine and the routine keeps the world in order.
So, when you slip out of the corset of everyday life, leave the comfort zone, the world around you stretches, strains and inflates like a bouncy castle.
Finally, realisation arrives: you have not shrunk, but the world around you has grown. The first – and even the twentieth – day in a new job is bigger than the seven hundred and eightieth; learning the rules of a country takes more time than following the familiar rules; finding the new running route more energy than completing the familiar lap; scouring the unfamiliar city for the right shops more patience than heading for the familiar ones.
Reaching Hilltops
And: at every hilltop you climb there is a little more support. A little more stability that stays, that clings, a second skin, a new corset that is now airy, soft, almost delicate.
And maybe, is the next thought, the chair you are resting on, the one you failed to fill by yourself is not made for a giant at all, but for a group of people