Ein Tag im Meer, der keiner war

Es sind immer wieder die Bilder.

Die alten Bilder, die man in sich trägt, ohne zu wissen woher. Vielleicht aus der Kindheit. Vielleicht von davor. Sie schicken Gefühle durch den Körper, die die Füße kribbelig machen und das Herz unruhig. Man bekommt Heimweh nach einem Ort, den man nicht kennt, aber an dem man glücklich sein wird.

Ein Sommertag am Meer.

Eine leicht vergilbte Fotografie. Heißer Sand unter den nackten Füßen, man hüpft von Sonnenschirmschatten zu Sonnenschirmschatten. Das weiße Baumwollshirt liegt kühl auf der warm gebräunten Haut, der Bikini ist noch feucht. Schokocroissants und von irgendwo der Duft von Souvlakispieß; eine Bucht in Griechenland. Kristallklares Meer bis in die Tiefe, der Körper treibt leicht auf dem schwappenden Wasser. In der Erinnerung ist der Tag nicht so heiß. Das Gesicht steckt in einer Wassermelonenscheibe, der Saft rinnt übers Kinn der Schwester. Eine Hängematte im schattigen Garten der kleinen Pension. Das windschiefe Lächeln der Vermieterin, klebrig süßer Orangensaft, salzloses Brot und ein weiches Ei.

Es sind ganz viele Urlaube auf einmal und keiner.

Wir biegen ab, auf den Strandparkplatz, es ist die Westküste Englands, rollen zwischen Reihen an Autos vorbei, der Sand knirscht unter den Reifen.

Die Autos stehen in säuberlichen Reihen positioniert wie im Autokino. Der Horizont ist die Leinwand. Die Menschen sitzen neben den heißen Motorhauben oder halb darunter, weil dort ein bisschen Schatten ist. Sie essen mitgebrachte Sandwiches und bauen Burgen aus Sand, der schwarz ist vom Abrieb zu vieler Reifen. Wir fahren fast bis zu dem kleinen Berg am Ende der Bucht, weil es dort sehr ruhig ist und der Sand wieder weiß.

Im Schrei der Möwen

Beim Aussteigen kommt das alte Bild auf, es legt sich über den neuen Strand, sodass man ihn kennt, obwohl man noch nie da war und macht ihn matt. Es ist im salzigen Wind, im Schrei der Möwen, im Glitzern des Meers und in den Kinderschreien. Man ist im Jetzt und in ganz vielen Erinnerungen, die manchmal einem selbst gehören und manchmal den anderen. Sodass sie immer wieder an den Erwartungen zerbrechen. Zu viel Anspannung. Fünf Stunden Autofahrt, um an den wärmsten Strand Englands zu gelangen. Eine Schnitzeljagd.

Und dann: ist das Meer nicht da. Es ist eine dünne Linie am Horizont, die aussieht wie eine Wolke. Die Menschen fahren wie Lemminge an einen Strand, der eine endlose Weite ist, an dem sie nicht schwimmen, sondern über das sie dann in Streichholzgröße wandeln, wie Adelsfrauen im viktorianischen England.

Wir gehen das Meer suchen.

Schlammschmatzer

Wir kommen bis zur Hälfte, dann verwandelt sich der dunkle Sand in braunen Schlamm, der unsere Füße mit einem Schmatzer einsaugt und am liebsten nicht mehr hergeben würde.

Wir gehen also auf den Berg rechts von uns, am Ende der Bucht, liegen unter schattigen windverzerrten Kronen, den Kopf am Bauch, essen mitgebrachte Sandwiches, erkunden den Hügel bis ans Ende, wo es ein Fort gibt. Von der Ferne sah es so aus als würden die Wellen direkt an die Mauer klatschen, aber es sind hohe Klippen dazwischen – das Meer hat sich wieder zurückgezogen. Aber die Leichtigkeit ist geblieben.

Das Schwimmen im Meer ist an diesem Tag nur ein Gefühl und dennoch wird man in der Erinnerung an den Tag geschwommen sein.