Über Orte mit Gefühl und Zuversicht in Würfelgröße
Es gibt Orte, die berühren einen besonders.
Der Kahlenberg, zum Beispiel.
Am Tag vor meiner Diplomprüfung ist ein guter Freund mit mir hinaufgefahren. Er hat mich nach dem Lernen eingepackt und gesagt: “Wir fahren jetzt noch kurz wohin.” Und ich war begeistert, weil ich viel zu selten nicht weiß, wo es hingeht und dem Zufall zu wenig Möglichkeiten gebe.
Es war ein nicht zu heißer Junitag. Wochentags. Später Nachmittag. Es waren kaum Menschen auf der Aussichtsplattform zwischen Hotel und Kaffeehaus und vor dem Geländer hat sich die Stadt bis zum Horizont erstreckt.
Reihenweise niedliche kleine Häuserchens; selbst Hochhäuser nur in Spielwürfelgröße. Ich hätte sie von dort oben alle mit meiner Hand wegwischen können. Wie viele Menschen in ihnen wohl gerade aufgeregt herumliefen und sich Sorgen machten? Aus der Distanz eine absurde Vorstellung. Ist aus der Ferne doch so klar, dass die überlebensgroßen Sorgenpakete doch nur winzig klein sind.
Und auf einmal war auch meine Aufregung ob der bevorstehenden Prüfung wie weggeblasen.
(Zumindest für einen kurzen Moment. Mit jeder Serpentine, die wir die Höhenstraße später wieder hinabfuhren, kam die Aufregung wieder nach oben gekrochen.)
Vespa-Ausfahrt
Dieser Tag liegt mehr als vier Jahre zurück. Ich war seitdem nicht mehr an dieser Aussichtsplattform, aber in meiner Erinnerung hat der Ort nichts von seiner Stärke verloren.
Letztes Wochenende hat meine Vespa dann darauf bestanden, wieder hinaufzufahren.
Ich habe noch nie eine Vespafahrt nur des Fahrens willens unternommen. Bis jetzt war es immer nur Mittel zum Zweck. Aber diesmal lässt die rote Vespa nicht locker. Dazu das goldene Herbstlicht, die Wärme, die Sonne, wie hätte ich Nein sagen können?
In meiner Vorstellung ist es zutiefst romantisch: In der Nachmittagssonne die einsame Höhenstraße zu erklimmen und rechtzeitig für den Sonnenuntergang an der Aussichtsplattform stehen, um die in Abendrot getauchte Stadt zu sehen.
Verstopftes Grinzing
Erste leise Zweifel an der Wahrhaftigkeit meines Bildes kommen auf, als ich in Grinzing zehn Minuten im Stau stehe, weil ein Hop-On-Bus und ein dicker VW Amarok in der engen Gasse nicht aneinander vorbeikommen wollen.
Natürlich hätten bei den Schlagwörtern “letzter sonniger Sonntag” und “Höhenstraße” schon von Vornherein die Alarmglocken schrillen müssen. Aber ich ignoriere die vielen Fahrzeuge um mich herum und rede mir ein, dass diese Menschen bestimmt alle schon am Heimweg sind.
Dann gibt die letzte Linkskurve den Blick auf den Parkplatz am Kahlenberg frei – und beim Anblick der vielen Autos, deren Dächer im Sonnenlicht glänzen, bleibt mir für eine Sekunde die Luft weg.
Aber jetzt bin ich so weit gekommen, jetzt drehe ich nicht auf den letzten Metern um. Ich möchte zu der Aussichtsplattform.
Jahrmarktstimmung
Also fahre ich mit der Vespa so weit ich komme und lasse mich dann in den Trauben der Besuchenden weitertreiben. Aber dieses Jahrmarktsfeeling mit den Souvenirständen, den Süßigkeiten und den ausgelassenen Rufen passt gar nicht zu meiner Stimmung.
Ich wollte Ruhe und Besinnlichkeit, meinen Blick über Wien schweifen lassen und den Perspektivenwechsel wie vor vier Jahren spüren.
Aber als ich mir endlich einen Platz ganz vorne am Geländer erkämpft habe, versuche, mich nicht von Selfiestangen erschlagen zu lassen und die untergehende Sonne die Stadt tatsächlich in ein warmes Licht taucht, spüre ich:
Nichts.
Und mir wird klar, dass ich meine Erinnerungen an den Tag überhaupt nicht mit dem Ort zusammenhängen. Sondern mit der Person, die sie mir gezeigt hat.
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