Widersprüchliche Gefühle über den Wolken

Aus dem Flugzeug

Zuerst: der zurückgelehnte Sitz der Vorderperson. Kaum dass die Flughöhe erreicht worden ist. Ohne dass sie sich umgedreht, sich vergewissert hätte. Obwohl, wofür auch? Welche Person am Sitz dahinter gibt der Vorderperson je Genehmigung dafür, einen noch mehr einzuschränken.

Trotzdem: Verärgerung.

Vielleicht auch: Bewunderung, weil sich die Frau  den Raum einfach so nimmt. Sich zurücklehnt. Genießt. Ohne Rücksicht.

Aber so will man doch gar nicht sein.

Dann, die geschlossenen Augen der Person links von einem, am Gangplatz. Begleitet vom Bedürfnis, aufs Klo zu müssen. Muss ich wirklich oder muss ich nur, weil ich weiß, dass es gerade nicht so gut geht, weil ich schwer über die Person klettern kann?

Der leichte Grant auf diese Gangperson, weil sie doch wissen muss, dass sie mit ihrem Schlaf ihre zwei Sitznachbarn einsperrt.

Dazu, von rechts, ein fremder Ellenbogen auf der Mittellehne. Ein Ellbogen, den man nicht berühren mochte, weil die Person so unbekannt ist, und es doch tut, weil man sich so eingesperrt fühlt.

Das Zurückzucken des Gegenübers, weil das Berühren zu nah war. Und weil er vielleicht erkannt hat, dass er zu viel Platz eingenommen hatte.

Ein leicht triumphierendes Gefühl, als sich der eigene Ellenbogen Raum verschafft, verbunden mit einem Hauch von schlechtem Gewissen, weil man jemanden verdrängt hat.

Verzicht gegen Genuss

Allgegenwärtig: Das unterdrückte schlechte Gewissen, überhaupt in einem Flugzeug zu sitzen. Auch wenn es beruflich ist – wie schnell dieser Gedanke herauskommt. Ein Reflex, eine Rechtfertigung, als wären die Abgase dadurch geringer.

Die sich hervorkämpfende Überzeugung, dass Reisen aber doch wichtig ist. Lehrreich. Aufklärend. Intensiv. Bunt. Unerwartet. Lustig. Heilsam. Ist es nicht der Segen unserer Zeit, dass weites Reisen nicht mehr nur den Wohlhabenderen überlassen ist? Und es verbindet. Ja, nicht Shoppingtrips übers Wochenende. Aber Reisen-Reisen. Das Eintauchen in fremde Kulturen, fremde Gerüche, fremde Traditionen. Durch deren Anderssein man ja auch wieder das Eigene besser kennenlernt. Oder ist das nur eine Ausrede?

Die zynische Frage, was die Welt tatsächlich vom eigenen Reisen hat. Ist die persönliche Neugier Grund genug, dafür den CO2-Ausstoß in Kauf zu nehmen? In einer Zeit der Egozentriertheit ist das Verlangen nach persönlicher Verwirklichung doch aus dem Ruder gelaufen.

Wie weit muss der eigene Verzicht gehen? Oder umgekehrt: Wie sehr darf der eigene Genuss auf Kosten anderer sein? (In dem Fall: auf Kosten der Um-welt.)

Werden wir eine Generation des schlechten Gewissens? Weil alles, was wir tun, in Wahrheit schon zu viel ist?

Der nächste gedankliche Einwurf: Dass man doch schon den Kurs korrigiert hat: Weniger Fleisch, kaum noch Fast Fashion, weniger Kurzwochenendtrips, weniger Heizkosten.

Minimale Erleichterung.

(Obwohl: Das letzte Argument ist geschummelt: Wer es nicht gern heiß mag, muss nicht viel heizen. Oder ist das nicht egal? Am Ende zählt doch nur, wo man Energie spart. Ist es wichtig, ob das Sparen eine Einschränkung war?)

Wo ist die Grenze?

Die nächste Frage: Wie kann Zurücknehmen überhaupt gemessen werden? Wenn man bis dato im Jahr x-Mal auf Reisen war, ist heuer x-minus-2-Mal wenig genug?

Wo kann die Grenze gezogen werden?

Geht nicht immer noch ein bisschen weniger?

Und spießt sich das nicht mit dem Bedürfnis, zu wachsen?

Oder ist das nur der Kapitalismus?

Sind wir zu sehr im Außen?

Dann noch: Vibrationen an der Lehne, weil die Person hinter einem so energisch auf dem Laptop herumtippt, dass mein Sitz wackelt.

Innerliches Augenverdrehen.

Lasse offensichtlich Genuss der anderen auf meiner Kosten nicht gerne zu.

Gibt hier also wohl noch Anlass, zu wachsen.

Ganz ohne dabei Raum einzunehmen.

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