Das bevorzugte Familienmitglied

Erlebnis I

Morgens.

Frühstück in einem süßen Café mit rundem Marmortischchen mit Porzellangeschirr und Etagere. Die Herbstsonne scheint auf uns. Eine Wespe umschwirrt den Tisch. Hektisch, aufgeregt. Ich wachle sie mit der Hand fort.

Ein kleines Stück weiches Ei fällt vom Löffel auf den Teller. Die Wespe kommt retour, dieses unangenehme Geräusch beim Fliegen – ist es wirklich so irritierend oder ist es bloß, weil man es mit ihrer aggressiven Art verbindet? Sie lässt sich von meinem Wacheln diesmal nicht irritieren. Landet in aller Ruhe auf dem Teller. Lässt sich jetzt noch weniger verscheuchen, als wäre sie festgesaugt am Teller.

Mein Fächern wird unfreundlicher. Überlege, ob ich sie erschlagen kann, ohne dabei mein Frühstück in der Umgebung zu zerstreuen. Komme zu dem Schluss: Nein.

Faszination

Die Wespe krabbelt hektisch zu dem Stück weichen Ei. Es ist fast so groß wie ihr eigener Körper. Sie klettert auf das Eistück, umschließt es vorsichtig mit ihren Greifbeinen. Ich bin angeekelt und fasziniert. Ist ihr Gelb-Schwarz intensiver geworden? Achtung, ich steche.

Dann hebt sie ab. Das riesige Ei-Stück klemmt zwischen ihren Beinen.

Es muss ziemlich schwer sein, sie fliegt betrunkene Kreise, donnert fast gegen die Häuserwand. Ich tupfe die Stelle, auf der die Wespe gesessen ist, mit einer Serviette ab, um etwaiges versprühtes Wespengift aufzusaugen und setze mein Frühstück fort.

Als ich den letzten Bissen Ei essen möchte, kommt sie zurück. Fliegt zielsicher ins Ei hinein. Ich lasse den Löffel fallen und sie gewähren.

Dämonin! Du hast gewonnen.

Erlebnis II

Nachmittags.

Yoga im Park. Ich möchte mit den Übungen beginnen, da setzt sich eine Hummel, augenscheinlich mit letzter Kraft direkt neben mich ins Gras. Ihr runder, weicher Körper bebt hektisch als sei sie außer Atem. Zu kalt? Zu wenig Energie? Ich habe unlängst gehört, dass man schwachen Bienen helfen kann, wenn man ihnen Zuckerwasser gibt. Gilt bei Hummeln bestimmt auch. Aber wirkt auch Holundersaft? Gieße ein wenig davon neben die Hummel ins Gras. Sie fährt ihren überraschend langen und dicken Rüssel aus, beginnt gierig zu trinken.

Fühle mich als große Hummelretterin.

Dann erstarrt die Hummel. Komplett. Kein Heben des pelzigen kleinen Körpers, kein Fächern der Flügel. Starre.

Mir wird heiß. Ist sie tot? Habe ich sie umgebracht? War in dem Hollersaft zu viel Chemie? Oh, arme Hummel, dabei wollte ich dich retten!

Ich will den Zustand der Hummel testen, in dem ich ihr mit der Hand ganz nahe komme. Wenn sie lebt, muss sie doch reagieren. Die Riesenhand muss sie ängstigen.

Besorgnis

Komme näher, stupse sie fast an. Aber: Nichts.

Ich habe sie tatsächlich umgebracht.

Oh, die Ironie.

Beginne mit meiner Yogaroutine und passe auf, dass ich nicht versehentlich auf die Hummel trete. Schaue auch immer wieder, ob sie sich bewegt. Aber: Nichts.

Doch dann, bin im Herabschauenden Hund und nehme aus den Augenwinkeln wahr: Ein Flügelschlag!

Sie bewegt sich!

Der Körper hebt und senkt sich wieder, aber: viel ruhiger. Sie beginnt sich zu putzen, wohl um den klebrigen Zucker von ihrem Körper zu waschen.

Sie putzt und putzt und putzt.

Und dann: hebt sie ab. Ruhig, entspannt. Fliegt direkt auf mich zu, aber: langsam, kein Angriff. Bleibt kurz vor mir in der Luft stehen. Ich bilde mir ein, es ist ihre Art, danke zu sagen. Wahrscheinlich überlegt sie lediglich, wo sie hinfliegen soll.

Dann dreht sie ab und fliegt Richtung Teich davon.

Tschüss, du Gemütliche!

Versuche nun den Gedanken zu ignorieren, dass meine Insektenrettungsaktion ziemlich heuchlerisch ist, da ich beim Frühstück mit dem Gedanken gespielt habe, eine Wespe zu erschlagen. Wie man einen Hautflügler so abstoßend finden und den anderen so harmlos, fast schon süß?