Gut gemeint oder der Schneeballeffekt der Gefälligkeiten

Es ist wegen der 50 Cent.

Den 50 Cent, die mir vor zwei Tagen der Mann im Naturkostladen geliehen hat.

Der Anlass

Ich hatte knapp zu wenig Geld dabei – und natürlich auch keine Bankomatkarte mit. Und während ich noch überlegte, ob ich die Milch oder die Champignons  zurücklassen sollte, bot der Mann, der hinter mir an der Kassa anstand, das fehlende Geld einfach an.

Ich war überrumpelt.

Wie ich ihm das zurückgeben sollte, fragte ich daraufhin.

Er schüttelte den Kopf. „Aber geh, das passt schon.“ Dann hat er seinen Einkauf auf die Theke gelegt.

Nett sein ohne eine Gegenleistung zu erwarten – das ist schön!

Und das hat mich motiviert.

Die Inspiration

Und an eine Kurzgeschichte erinnert, die ich als Kind gelesen habe.

Von Enid Blyton. Den Namen habe ich vergessen, aber der Inhalt ging in etwa so:  Ein Schaffner erwischt ein Mädchen ohne Zugticket. Aber bevor er ihr eine Strafen ausstellen kann, kommt ihr ein Bub zu Hilfe. Er händigt dem Schaffner das notwendige Geld  – waren es nicht tatsächlich auch 50 Cent?  – und sagt dem Mädchen, sie muss ihm das Geld nicht zurückgeben. Aber sie soll doch einer anderen Person helfen, die in Not ist.

Das macht sie. Und will dann ebenfalls keine Gegenleistung, sondern sagt der Person, sie soll wiederum jemandem helfen. Und so werden die Hilfeleistungen nach dem Schneeballprinzip immer größer und größer.

Wäre doch schön, dachte ich, selbst so etwas zu starten.

Also nahm ich mir vor, künftig die Augen offen zu halten.

Die Gelegenheit

Zwei Tage später in der Buchhandlung: Vor mir an der Kassa steht eine ältere Dame mit schweren Einkaufssackerln.

„Geht’s? Können Sie das tragen?“ Fragt die Buchverkäuferin.

„Aber, ja. Nur zu mir rauf, isses mühsam. Weil wissen’S, ich lebe ja im vierten Stock ohne Lift.“

„Oje, sollen wir Ihnen sicher nicht helfen?“

„Aber gehn’S, neinnein, ich schaff’ das schon!“

Sie packt ihre vier Sackerl und geht langsam zu Tür.

Vierter Stock, denke ich, puh, das muss anstrengend sein.

Und als nächstes: Das wäre doch ein schöner Gefallen!

Ich bin so ergriffen, von meinem Vorhaben ihr zu helfen, dass ich nicht überlege, ob mein Angebot komisch rüberkommen könnte.

Zahle nur schnell und folge der Frau nach draußen.

Ich denke: Am besten folge ich ihr unauffällig, tue so, als hätte ich den gleichen Heimweg und biete ihr dann vor ihrer Haustür meine Hilfe an. 

In meinem Kopf ergibt das sehr viel Sinn.

Ich bin mir sicher, dass sie sich riesig freuen, mich angrinsen und sich bedanken wird. Und ich werde ihr sagen: ,Das ist doch kein Problem, das habe ich gern gemacht. Und wenn Sie einmal die Gelegenheit haben, erweisen Sie doch jemandem einen kleinen Gefallen.‘

Wie perfekt.

Ich bin eine lebendige Kurzgeschichte.

Die Ausführung

FüßeIch gehe weiter hinter der Frau nach.

Wenn sie nur nicht so uneeeeeenldich langsam gehen würde.

Meine Beine wissen nicht so recht, wie sie es anstellen sollen, hinter ihr zu bleiben.

Selbst wenn ich ab und an vor Auslagen stehen bleibe, ist es ein Kraftakt, sie nicht zu überholen.

Die ältere Frau dreht sich kurz zu mir um.

Sie geht ein kleines bisschen schneller.

Vielleicht kann sie nicht mehr und möchte schnell nach Hause?

Na, aber ich könnte ihr die Hilfe ja eigentlich jetzt schon anbieten. Aber klar! Wieso habe ich daran nicht schon früher gedacht?

Ich gehe auch etwas schneller.

Sie dreht sich noch einmal um.

Ist das Erschöpfung in ihrem Gesicht?

Vielleicht kann sie wirklich nicht mehr und wünscht sich, dass jemand kommt und ihr hilft. Bestimmt ist sie gleich enorm erleichtert.

„… Verzeihung“, sage ich, als ich auf ihrer Höhe bin, „aber ich habe Sie in der Buchhandlung vorhin überhört, …“

(Okkayyy, irgendwie klingt das gerade etwas komisch.)

„… dass sie keinen Lift haben …“

(Oh nein, das klingt definitiv komisch!)

„… und ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen vielleicht beim Tragen helfen soll?“

(ALARM! Ich klinge nach jemanden, der die alte Frau eigentlich ausrauben möchte!)

Oh, Gott, das ist gar keine Erschöpfung in ihrem Gesicht! Das ist pure Panik!

Sie schüttelt sehr schnell den Kopf, sagt „Danke“, geht weiter.

Überraschend schnell diesmal.

Nach ein paar Metern dreht sie sich noch einmal um. Und als sie merkt, dass ich ihr nicht mehr folge, scheinen ihre Schultern erleichtert nach unten zu sinken. Sie geht langsamer weiter.

Um sie nicht noch einmal ungewollt zu beunruhigen, verschwinde ich rasch in der nächsten Seitengasse.

Okay, vielleicht muss ich das mit dem Helfen noch üben…

Manchmal ist gut gemeint tatsächlich das Gegenteil von gut gemacht.

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