Mensch, verzweifle nicht
+++ English Version below +++
Es kommt doch immer alles zusammen: müde von einem Termin, noch zwei Stunden Autofahrt vor mir (wann führt England endlich die Sparschiene ein?) und der Handyakku auf 13 Prozent. Aus den Augenwinkeln nehme ich am Navi den sprunghaften Wechsel von Orange auf Rot wahr; die Ankunftszeit springt nach hinten. Kurz auf die App folgt das echte Leben: Bremslichter, Warnblinkanlagen. Stau. Yet again.
Doch dann denkt die App nach und kann mir voll Freude, auch wenn es sich die blecherne Stimme nicht anmerken lässt, mitteilen: Es gibt eine Ersatzroute. Sie führt weg von der Hauptstraße. Möchte ich das annehmen? Dann bitte akzeptieren.
Aufgeregt sucht der Finger den Knopf.
Dann biegen Sie bitte JETZT rechts ab!
Ich reiße das Lenkrad herum und erkenne erst nach dem Abzweigen, dass ich auf einer einspurigen Forststraße gelandet bin. Rund um mich herum: meterhohe Telegraphenmast-Bäume. Das Auto rumpelt über die Erdstraße, die löchrig wie ein Vier-Gewinnt-Spielbrett stetig einen der Reifen absinken lässt. Das kann unmöglich der richtige Weg sein. Sollte ich umkehren, zurück auf die Hauptstraße? Wie lang kann der Stau schon dauern?
Der Blick in den Rückspiegel nimmt mir die Entscheidung ab. Eine Handvoll Autos sind bereits hinter mir in die Umfahrung eingebogen. Dann eben vorwärts.
Navi-Follower
Ich rattere über die Schlaglöcher, die Kuhfladengröße erreicht haben, nach Norden, weg von der Hauptstraße und damit auch weg von meinem Zuhause. Irgendwann geht es nach links, dann wieder gerade, ein bisschen zurück, nach oben. Ohne Navi bin ich verloren. Der Akku vermeldet 10 Prozent. Natürlich habe ich noch kein neues Ladekabel besorgt. Zumindest bin ich einer Kolonne aus Navi-Followern eingekesselt.
Und dann, ab der unübersichtlichsten Stelle – natürlich! – links Waldgestrüpp, rechts meterhohe Böschung, bremst sich das Auto vor mir ein, kommt zum komplette Stillstand. Aus und vorbei.
Ich warte kurz, und steige dann aus. Die drei, vier Autos, die ich bis zur Kurve erkennen kann, stehen auch. “Unfall auf der Hauptstraße”, sagt ein Mann mit Bart. “LKW liegt quer. Sie haben die Straße gesperrt.” Gesperrt? Der Mann mit dem Bart nickt. “Die rechnen wohl nicht damit, dass hier wer runterkommt. Würde mich nicht wundern, wenn das Stunden dauert, bis wir weiterkommen.” STUNDEN?!
Ich setze mich ins Auto. Meine Hand zittert leicht als ich zur Wasserflasche greife, es ist nur mehr ein kleiner Rest Wasser drin. Ich nehme einen ganz kleinen Schluck. Meine Finger kribbeln. Wieso ist meine Kehle so trocken?
Das ist doch albern. Ich steige wieder aus. Vielleicht gibt es einen kleinen Laden in der Nähe. Der Postbote hinter mir lacht. “Nein, hier gibts meilenweit nichts.” Die Angst überlegt, ob mich die nachkommenden Autofahrer:innen retten würden, wenn ich vor Hunger, Durst und Kälte ohnmächtig werde. Die Vernunft verdreht die Augen.
Ich gehe ein paar Schritte nach vorne, aber sehe lediglich wartende Autos und bald wieder eine Biegung. Das Handydisplay wird schwarz. Brilliant.
Ich setze mich ins Auto.
Warte.
Draußen beginnt es zu nieseln, im Auto wird es kühl.
Angstkreislauf
Die Angst läuft im Kreis, nicht bedenkend, dass sie so doch so viel mehr Energie benötigt. Sie überlegt, wann wir das letzte Mal gegessen haben. Wie viel heute getrunken. Wie viel Energie noch da ist. Wie kalt es in der Nacht wird. Wieso es im März so kalt ist. Wie wir ohne Navi erkennen könnten, wo der nächste Ort ist. Wo man hier aufs Klo könnte. Wieso ich beim Wegfahren nicht noch eine Wasserflasche gekauft habe. Ob Herzklopfen Ohnmacht begünstigt.
Die Vernunft hält sich die Ohren zu.
Nach einer halben Stunde Angst-Monolog ruckelt das Dach des Kleinlasters vor der Biegung. Es geht weiter!, brüllt die Freude. Die Vernunft lächelt weise und die Angst setzt sich sorgsam auf: “Bestimmt stoppen sie gleich wieder.”
Aber die Autowelle kommt genüßlich ins Rumpeln. Als nach drei Biegungen ein kleine Siedlung in Sicht kommt, muss die Vernunft lachen, die Angst blickt sie beleidigt an. “Der Postbote hat gesagt: Meilenweit nichts.”
Wir, die Angst und die Vernunft und ich, bleiben dann im nächsten Ort stehen. Für einen kurzen Moment ist es noch einmal entrisch, als all Autos, in die entgegengesetzte Richtung fahren, kein Mensch auf der Straße ist und der kleine Supermarkt ums Eck ein nahezu komplett leeres Getränkelokal hat (aber ist Post-Brexit ja fast schon Alltag).
Zehn Minuten später, im Pub, mit einem Ginger Ale und dem Handy am Aufladen, ist die Welt wieder im Rahmem. Und die Panik von vorhin wirkt nicht nur unnötig, sondern lächerlich.
„Das nächste Mal“, erkläre ich ihr, „wird nicht sofort losgaloppiert.“
„Sicher“, erwidert die Angst. Und grinst.
When Fear Takes The Gear
Everything always comes together: tired from an appointment, another two hours of driving ahead of me (when will England finally introduce the economy rail?) and the cell phone battery at 13 percent. Out of the corner of my eye, I notice the sudden change from orange to red on the sat nav, the time jump backwards. Real life follows shortly after the app: Brake lights, hazard lights. Traffic jam. Yet again.
But then the app thinks and can tell me full of joy, even if the tinny voice doesn’t let on: There is an alternative route. It leads away from the main road. Do I want to accept that?
Excitedly, the finger searches for the button.
Then turn right NOW!
I jerk the steering wheel around and only realize after the turn that I have landed on a single-lane forest road. All around me: telegraph pole trees several meters high. The car rumbles over the dirt road, which is as full of holes as a four-game board and steadily causes one of the tires to sink. This can’t possibly be the right way. Should I turn around, back onto the main road. How long can the traffic jam last?
But a glance in the rearview mirror takes the decision away from me. A handful of cars have already turned into the bypass behind me. Forward, then.
Sat-Nav-Followers
I rattle over the potholes, which have reached cowpat size, to the north, away from the main road and thus also away from my destination. At some point, the road turns left, then straight again, back a bit, up. Without a navigation system I am lost. The battery reports just 10 percent. At least I am surrounded by a column of navi-followers.
And then, of course at the most confusing place, forest undergrowth on the left, meter-high embankment on the right, the car in front of me comes to a final standstill, brakes, nothing works anymore.
I wait a moment before I get out. The three or four cars I can make out up to the bend are also stationary. „Accident on the main road,“ says a man with a beard. „Truck is across. They’ve closed the road.“ Closed? The man with the beard nods. „I guess they don’t expect anyone to come down here. Wouldn’t surprise me if it takes hours to get anywhere.“ HOURS?!
I sit down in the car. My hand shakes slightly as I reach for the water bottle, there’s only a little bit of water left in it. I take a very small sip. My fingers tingle. Why is my throat so dry?
This is silly. I get out of the car. Maybe there’s a little store nearby. The mailman behind me laughs. „No, there’s nothing around here for miles.“ Fear ponders whether the following motorists:inside would save me if I faint from hunger, thirst and cold. Reason rolls its eyes.
I take a few steps forward, but see only waiting cars and soon another bend. The cell phone goes black. This must be how a horse with blinkers must feel, only looking at the next few steps, no long range, no view, no corner of the eye.
I get back in the car.
Wait.
Outside it starts to drizzle, in the car it gets chilly.
Fear running circles
The fear runs in circles, not considering that it needs so much more energy this way. But it does not listen. She thinks about when we last ate. How much we drank today. How much energy is left. How cold it gets at night. Why it is so cold in March. How we could tell where the next place is without a sat nav. Where you could go to the bathroom here. Why I didn’t buy another water bottle on the way out. Whether heart palpitations promote fainting.
Reason covers its ears.
After half an hour of anxiety monologue, the roof of the pickup jerks before the bend. It goes on!, roars joy. Reason smiles wisely and fear sits up, „Who knows, maybe it’ll stop again in a minute.“
But the car wave comes rumbling with pleasure. When, after three bends, a small settlement comes into view, Reason has to laugh, and Fear looks at it in a huff. „The mailman said nothing for miles.“
We, Fear and Reason and I, then stop in the next town. For a brief moment it is once again eerie, as all cars, driving in the opposite direction, no one is on the street and the small supermarket around the corner has an almost completely empty drinks bar (but is post-Brexit yes almost everyday).
Ten minutes later, in the pub, with a ginger ale and the cell phone charging, the world is back to normal. And the panic of earlier seems not only unnecessary, but ridiculous. Fear raises its shoulders apologetically.
„Next time,“ I explain to her, „there will be no galloping off right away.“
„Sure,“ Fear replies. And grins.