Wie Dolly Shepherd mit einem Sprung Geschichte schrieb
Es gibt Personen, bei denen reicht ein rasant vorbeifahrendes Auto aus, um den Adrenalinspiegel in Höhe schnellen zu lassen.
Und dann gibt es jene, die brauchen so viel Aufregung, dass sie ihnen aus den Ohren läuft, bevor das Adrenalin auch nur daran denkt, sich im Körper auszuschütten.
In diese Kategorie fällt die Engländerin Elizabeth „Dolly“ Shepherd.
Dolly Shepherd war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Edwardian Lady Parachutist“ (Miss Fallschirmsprung) bekannt und ging 1908 mit einer außergewöhnlichen Rettungsaktion in die Geschichte ein.
Ein Zufall und ein Ei
Aber von vorne: Um die Jahrhundertwende arbeitete die Britin Dolly Shepherd als Kellnerin im „Alexandra Palace“, einem Sportzentrum in London.
Das tat sie bloß, weil sie die berühmte „American Sousa Band“ sehen wollte und sich keine Karten leisten konnte. Und wie es der Zufall so wollte, landete der Musiker John Philipp Sousa nach seinen Konzerten öfters an einem ihrer Tische.
Eines Tages überhörte sie seine Unterhaltung mit seinem Freund Cody. Dieser klagte: Er könne den Stunt, bei dem er ein Ei vom Kopf seiner Frau schieße, nicht durchführen, weil diese krank sei. Dolly Shepherd überlegte nicht lange und bot sich an. Ein wenig zu ihrer eigenen Überraschung wurde ihr Angebot angenommen.
Hätte Dolly Shepherd gewusst, dass der Trick mit verbunden Augen durchgeführt wurde, hätte sie vielleicht doch nicht so schnell „Hier“ gerufen. Doch der Stunt lief glatt und Cody, der auch Pionier der Luftfahrt war, führte sie in die Welt der Luftfahrt-Akrobatik ein.
Spektakel in der Luft
Um 1904 (als noch kein Flugzeug über England geflogen war) war sie dann Teil einer Gruppe von FallschirmspringerInnen im „Alexandra Palace“.
Fallschirmspringen funktionierte damals so: Artistinnen und Artisten ließen sich von einem, mit Gas gefüllten Ballon in die Höhe tragen ließen. Hatten sie die richtige Höhe erreicht, zogen sie an einer Reißleine und der Fallschirm öffnete sich. Sie hielten sich mit den Händen an einem Trapezseil fest, hatten einen Sicherheitsgurt um die Taille geschlungen und die Beine in einer Schlinge.
1908 kam es zum folgenschweren Ereignis. Die damals 21-jährige Dolly Shepherd wollte mit Louie May, einer unerfahreneren Fallschirmspringerin, einen doppelten Sinkflug vorführen. Doch als die beiden die richtige Höhe erreicht hatten, wollte Louies Mechanismus nicht auslösen. Louie May konnte sich nicht vom Ballon lösen. Der Ballon trieb immer weiter nach oben, mehr als drei Kilometer in die Höhe; es wurde kälter und kälter.
Sicherheitsgurt gelöst
Dolly Shepherd hätte zu dem Zeitpunkt längst sicher absteigen können. Stattdessen löste sie Louies Sicherheitsgurt, und wies die Frau an, ihre Beine aus der Schlinge zu ziehen, sie um Dollys Körper zu schlingen und ihren Fallschirm loszulassen. Dann zog Dolly an ihrer Reißleine und sie sanken gemeinsam.
Der Sinkflug ging schnell, zu schnell, es kam zu einer Bruchlandung.
Und während die gerettete Louie unverletzt blieb, konnte sich Dolly nicht bewegen. Ihr Rücken war gelähmt, wochenlang lag sie bewegungslos im Bett. Die Ärzte erklärten ihr, dass sie nie weder gehen würde.
Doch Dolly Shepherd ließ sich nicht entmutigen. In einem letzten Rettungsversuch wurde Elektroschocktherapie angewandt. Mit Erfolg: Nach zwei Wochen konnte Dolly Shepherd nicht nur wieder gehen, sondern auch wieder Fallschirmspringen.
Was sie vier weitere Jahre getan hat.
Erinnerung in Eastbourne
Dolly Shepherd ist zwar in Potters Bar, Middlesex, geboren, ihre letzten Jahren hat sie aber in Eastbourne verbracht.
Und wer von Eastbourne (übrigens dem sonnigsten Städtchen Englands) zu den Beachy Head Klippen hinaufspaziert, kommt an einer Schirm-Kiefer vorbei, die Dolly Shepherd gewidmet ist. Und die, so wünschen sich die BaumpflanzerInnen, als Fallschirm-Kiefer in die Geschichte eingehen soll.
Es wäre nur angebracht.
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