Abendrot in Avalon
Wir steigen den dünnen Treppenpfad bergan und als wir um die Ecke kommen, peitscht uns der Wind so scharf entgegen, dass ich für einen kurzen Moment den Halt verliere. Am Tor zwischen den Welten ist es windig.
Die Menschen, die uns entgegenkommen, lächeln freundlich, wirken leicht. Sie tragen weite Kleidungsstücke, Batik-Look, Cordhosen, geknüpfte Armbände, die Haare offen; der Dresscode der Freigeistigen.
Der Ausblick von oben ist herrschaftlich. Glastonbury Tor kann mit seinen 158 Höhenmetern gerade den Stephansdom in sich behergen, aber weil es rundum so flach ist, ragt er mit seinem St. Michaels Kirchturm majestätisch empor.
Insel im Nebel
Wenn der Nebel das umliegende Somerset zudeckt, wird aus Glastonbury die Insel von Avalon.
Der Wind zerrt an unserer Kleidung, an den Haaren, an dem Schal. Es fühlt sich richtig an, dass man hier in andere Sphären wechseln kann.
Im Gemeinwissen ist Glastonbury Musikfestival; Stars in Hippie-Outfits, mit Fransen und Cowboyboots, Pappbecher, Menschenmengen, Freiheit. Aber diese Stimmung gibt es hier das ganze Jahr, es ist eine Kommune der Sanftheit und Spiritualität.
Die warmen Blicke tun gut nach zu viel Entfernung. In der Hauptstraße reihen sich vegane Bistros und Shops mit Feenfiguren und Tarotkarten aneinander, es riecht nach Kaffee, Weihrauch und Gras.
Der Heilige Gral
Am Fuße des Tor gibt es zwei Heilquellen, eine weiße und eine rote.
Das Rot kommt vom Blute Christi, vom Heiligen Gral, den rostigen Nägeln, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Die eine ist kalkhaltig, die andere führt Eisen mit sich und so wird Männern zu ersten geraten und Frauen zur zweiten. Sie schmecken beide eigen.
In der Abtei, die nur einen Steinwurf entfernt und heute nur mehr eine Ruine ist, kann man die angeblichen Gräber von King Arthur und Guinevere sehen. Im 12. Jahrhundert wollen Mönche sie in zwei Metern Tiefe auf einer Grabplatte gefunden haben.
Die Gräber, die heute ihre Schilder tragen, sind allerdings leer. Verwunschen ist es dennoch, wenn man vor ihnen steht.
Mystisch musikalisch
Wir steigen am Abend noch einmal auf den Hügel, der Wind hat kaum nachgelassen. Der Kirchtenturm thront gespenstisch in der Finsternis. Die Musik erreicht uns schon nach der Kurve. Eine Gruppe Freunde hat sich mit ein paar Musikinstrumenten im hohlen Innenraum des Gemäuers eingefunden, sie singen alte Volkslieder, begleitet von einer Gitarre und manchmal einer kleinen irischen Pfeife. Ihr Gelächter hallt den hohlen Turm nach oben.
Wir können sie nicht sehen, es ist zu dunkel im Turm, aber man fühlt sich verbunden. Wir setzen uns an der Außenseite nieder, an die Mauer gedrückt, vom Wind geschützt, und lassen uns von den Klängen forttragen. In dem Moment ist es ganz einfach.