Ein Zehn-Monats-Abenteuer

Nutford House

Die Erkenntnis trifft mich Ecke Oxford Street und Edgeware Road. Beim marmornen Triumphbogen. Es ist September 2010 und ich komme gerade aus der U-Bahn und von einer Woche Englandurlaub.

Vor mir: Mein Erasmusjahr in London.

Bis zu dem Moment hatte ich eine sehr kuschelig warme Vorstellung von London. Ich war zwei Mal zu Besuch gewesen; die süßen Häuser, die beschwingten Musicals, die gemütlichen Pubs haben mich begeistert. Deshalb hatte ich mich dann auch dazu entschieden, hier mein Auslandsjahr zu verbringen.

Aber als ich nun — aus dem stillen, idyllischen, spätsommerlichen Südwesten Englands kommend, wo ich mit einer Freundin die letzte Ferienwoche verbracht habe — anreise, bleibt mir vor Schock kurz die Luft weg: der hektische Verkehr, die großen Werbeplakate auf dem Kinokomplex, die sehr schnell gehenden Menschen in diesen dichten Mengen.

Von allem gibt es hier sehr viel.

Ich erkenne, dass ich offenbar in keiner Großstadt aufgewachsen bin, sondern aus einem kleinen Dorf komme. Wie kann mich sonst eine andere Großstadt so sehr beunruhigen?

Und dazu diese Erkenntnis: Genau hier werde ich ein Jahr lang leben.

Also zwar nicht direkt hier auf dem hektischen Verkehrsknotenpunkt, aber nur fünf Gehminuten entfernt.

Während der Koffer hinter mir herrumpelt, frage ich mich, was zum Teufel mir da eingefallen ist. Wie soll sich das ausgehen?

Vielleicht ist es auch mehr dieser Gedanke, der mich so beunruhigt.

Alles verlernt

Dann: die Ankunft im Studierendenwohnheim. Weil ich in der Vorbereitungszeit die Zimmeranmeldung schlampig – sprich: falsch adressiert – abgeschickt habe, habe ich kein Einzelzimmer mehr bekommen, sondern erhielt nur noch ein geteiltes. Dieses befindet sich in einem Heim, das zu Fuß eine halbe Stunde von meiner Uni entfernt ist. Alle anderen Heime befinden sich im 5-Minuten-Radius des UCL. Ich tue mir leid.

Bei der Anmeldung an der Rezeption des Wohnheims verstehe ich die Mitarbeiterin kaum und ich muss fast weinen, weil ich nun nicht nur in einer viel zu großen Stadt bin, ich kann offenbar auch kein Englisch, obwohl ich das seit zwei Jahren studiere.

Wir kommen ins Zimmer (die Freundin, die bald nach Brighton weiterfahren wird, ist vorläufig noch an meiner Seite, und ich bin ihr sehr dankbar dafür) und mir zieht es zum dritten Mal in einer Stunde den Boden unter den Füßen weg. Das Zimmer ist eine Bruchbude. Der Teppichboden ist fleckig, es stinkt und dreckig ist für die Abwasch kein Ausdruck.

Wir gehen also als allererstes in den Supermarkt, kaufen Waschmittel und verbringen den Rest des ersten Tages in London putzend.

Brauchst du noch mehr Beweise, dass das eine Schnapsidee war, fragt mich mein panischer Kopf. Ich versuche, die Angst wegzuputzen. Es gelingt nicht wirklich.

Abends gehen alle Studierenden des Hauses ins Pub ums Eck. Der Cider schmeckt herrlich und steigt mir schnell zu Kopf. Und ich bekomme das erste Mal den Hauch eines Gefühls, dass es mir hier doch gefallen könnte.

Die beste Zeit

Zehn Monate später, werde ich meinen Koffer rumpelnd die engen Treppen wieder hinunterziehen und sehr viel weinen. Es würden zehn der besten Monate meines Lebens hinter mir liegen, das Haus würde sich als herzigst und London als Herzensstadt herausgestellt haben.

Und dann werde ich mir beim letzten Blick auf mein Fenster – vierter Stock, ganz rechts – vornehmen, dass das nicht mein letztes Auszeit-Abenteuer war.

Fast zehn Jahre hat es nun doch wieder gedauert.

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