Und ewig lockt der Reiz

Laptop auf Schreibtisch

Ich starre wütend auf den Fernseher. Er hat das verdient. Gut, er eigentlich nicht, aber Netflix. Der Streaming-Anbieter hat von der neuen Staffel meiner liebsten Unsinnnsserie nur die erste Episode hineingestellt. Die nächste gibt’s erst nächste Woche. Ich wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn man sich nach nur einer Episode wieder aus der Serienwelt reißen muss. Ein bisschen ist da ein Trennungsschmerz. 

Ich glaube, ich mutiere zum Reiz-Labrador. Labrador, heißt es, haben kein Sättigungsgefühl. Sie würden essen, bis sie platzen. Ich hab kein Sättigungsgefühl mehr, wenn es um das Aufnehmen von Reizen geht.  Ich stopfe mich mit Reizen voll, bis mein Hirn platzt und mir die Information aus der Nase tropft und aus den Ohren läuft. Und trotzdem suchen meine Augen und meine  Ohren gierig nach neuen Informationen, die sie aufnehmen möchten, ohne sie verdauen zu können.

Auf der Suche

Abends, am Weg nach Hause in der S-Bahn: Ich habe mein Buch vergessen und der Handy-Akku ist zu leer. Ich könnte einfach mal runterfahren, aber meine Augen huschen so lange hektisch wie der wedelnde Schwanz eines Labradors im Zugabteil herum, bis sie irgendetwas gefunden haben, das sie lesen können. Modelabels, Gratiszeitungscovers, Titel von fremden Büchern. Hauptsache Input.

Zu Hause, auf  der Couch: Ich habe keine Lust und trotzdem ergreife ich das (sich gerade aufladende) Handy und scrolle durch Facebook und Instagram. Weil ich am Rücken liege, muss ich das Handy in die Höhe halten und bald schmerzen mir davon die Hände. Aber dann drehe ich mich lieber auf den Bauch und scrolle weiter anstatt mir endlich etwas zu essen zu machen. 

Ruhelos

Ich freue mich auf die halbe Stunde Ruhe beim Kochen.  Nach zehn Minuten stecke ich mir die Kopfhörer in die Ohren und schalte einen Podcast ein. Daraufhin muss ich mindestens fünf Mal laut fluchen, wenn es mir die Ohrstöpsel aus dem Ohr reißt, weil sich das Kabel  bei einer Küchenlade verfangen hat oder ich mich zu ruckartig drehe und vergesse, dass ein Kabel da ist oder mir das Handy – zum wiederholten Mal – auf den Boden fällt.

Nach dem dem Abendessen bin ich so träge, dass ich fast einschlafe, drehe aber doch Netflix auf  (zwar nicht die Lieblingsserie, aber es gibt ja genug zur Auswahl), lege mir dabei den Laptop auf den Schoß und google nebenbei unnötige Informationen, die ich mir nicht einmal bis zur nächsten Szene merke.

In Folge

Ich bin nicht sehr fasziniert von der Serie, also schaue ich mir drei Folgen an. Gerade noch kann ich  verhindern, dass die vierte Folge zu spielen anfängt. Denn sind die ersten Sekunden einmal gelaufen, kann man die restlichen 20 Minuten kaum noch abbrechen.

Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Wie früher mal dem Lernen. Wenn man sich vornahm, um 2 Uhr zu lernen zu beginnen und erst um 3 Minuten nach 2 auf die Uhr sah, machte es auch keinen Sinn, in der angebrochenen Stunde zu lernen zu beginnen und man entspannte noch bis 3 Uhr.

Whatsapp-Ton. Mein Pawlowsches Herz macht einen kleinen Sprung. Ich habe eine Sprachnachricht bekommen und beginne, sie zu hören, während ich mir die Zähne putze. Aber die elektrische Zahnbürste ist zu laut. Ich überlege kurz, mit dem Putzen aufzuhören, um die Nachricht fertig zu hören. Aber dann lege ich doch das Handy zur Seite.

Jetzt ist nur mehr das elektrische Summen der Zahnbürste zu hören. Ich bin überrascht, wie lang mir die zwei Minuten vorkommen.

Wieso ist die Stille so schwer auszuhalten?

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